«Die Scham muss die Seite wechseln»
Wie Mut anderen Menschen hilft, Kraft zu schöpfen
Jasmin von Wartburg,
Dieser Satz stammt von Gisèle Pelicot, einer Frau, die durch ihren ungeheuren Mut in den letzten Monaten des vergangenen Jahres ins Licht der Öffentlichkeit geriet, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Denn sie machte etwas, was es so vorher nie gab. Sie machte den Prozess um ihre Vergewaltigung öffentlich. Sie wollte, dass die Täter sichtbar werden. Und dass nicht die Opfer beschämt werden, wie es bei Vergewaltigungen und sexuellem Missbrauch fast immer geschieht, sondern die Täter.
Es war ein Prozess, der unglaubliche Abgründe des Menschlichen sichtbar machte, aber nicht nur das. Er machte auch sichtbar, wie sehr wir dazu neigen, die Opfer von Verbrechen zu beschuldigen, anstatt die Täter. Ausflüchte und Beschwichtigungen, Beschönigungen und Ausreden werden gesucht und gefunden, vor allem dann, wenn nur Männer das unter sich regeln und wenn es um Gewalt gegen Frauen geht.
Das wollte Gisèle Pelicot sichtbar machen. Es ging ihr nicht um Rache und Vergeltung, es ging ihr um Gerechtigkeit, nicht nur für sie selbst, sondern für alle Menschen, die Opfer von Verbrechen werden und sich dafür schämen. Sie wollte sichtbar machen, wie schnell wir bereit sind, uns auf die Seiten der Täter zu stellen, sie zu schützen und die Opfer zu beschämen.
Die Scham muss die Seite wechseln. Das betrifft auch die Art und Weise, wie wir in der Kirche mit Missbrauch umgehen – körperlichem und geistigem. Denn auch geistiger Missbrauch ist Missbrauch. Immer noch werden Höllenstrafen angedroht, wenn Menschen nicht das machen, was von ihnen verlangt wird. Nur ist geistiger Missbrauch noch weniger sichtbar als körperlicher. Und ist deswegen auch noch schwieriger zu ahnden.
Gott steht auf der Seite der Opfer. Indem er sich selbst zum Opfer machte «bis zum Tod am Kreuz», wie Paulus im Brief an die Philipper schreibt, hat er uns das eindrücklich vor Augen gestellt. Und indem er den unschuldig Hingerichteten auferweckte, hat er noch deutlicher gemacht, dass jede Form von Gewalt und jeder Versuch, sie zu rechtfertigen, gegen das Leben ist. Im Bild des Gekreuzigten lenkt er den Blick auf die Opfer und deren Heilung. Und erst, wenn die Opfer sichtbar geworden sind, wenn die Stummen eine Sprache und die Rechtlosen einen Anwalt haben, erst dann ist Versöhnung möglich. Das ist ein harter Weg, ein Weg der Selbstprüfung und ein Weg der Kritik. Früher gab es dafür das Wort «Busse», das heute missverständlich geworden ist, weil wir es mit Strafe verwechseln. Aber im Wortsinn meint es Umkehr, meint es das, was Giséle Pelicot so deutlich formuliert hat: Die Scham muss die Seite wechseln.
Gisèle Pelicot sagt selbst, dass sie für sich im Moment noch keinen Weg zur Heilung finden kann, zu tief sind die Verletzungen. Doch ihr Mut, aus dem Schweigen der Scham auszubrechen, öffnet für viele andere Menschen einen Weg, aus der Opferrolle herauszukommen und selbst in den schlimmsten Situationen neue Kraft zu schöpfen. Wir können sicher sein, dass Gott diesen Weg begleitet, denn er ist ihn selbst gegangen in Jesus Christus. Es steht die Hoffnung dahinter, dass das Gute am Ende stärker ist, und sei es noch so unscheinbar.
Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost,
was kommen mag.
Gott ist bei uns
am Abend und
am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Pfarrerin Jasmin von Wartburg