Das letzte Wort
Markus Dettwiler
Liebe Leserin, lieber Leser
Nach Besuchen, bei denen wir uns über so viele Dinge austauschen, erleben wir oft, dass da noch etwas sehr Wichtiges zum Schluss genannt wird, bevor man zur Haustüre hinausgeht. Meistens sind es leise Worte, diese letzten, manchmal ganz beiläufig geäussert, geflüstert schon beim Händedruck und in der Rückwärtsbewegung, manchmal herausgestossen wie schwerer Atem. Die Verabschiedung zwischen Tür und Angel befreit offenbar noch einmal die Seele, kratzt den letzten Mut zusammen, der bislang gefehlt hat, um doch noch etwas Wichtiges loszuwerden und mitzugeben.
«The last words» singt Billy Joël, wie die Sommerzeit gekommen und gegangen sei, die letzten Souvenirs gekauft. Der Songtext spricht von den letzten Worten, die er sagen muss, bevor ein weiteres Zeitalter unseres Lebens vergeht, Worte, für die es manchmal länger braucht sie zu schreiben. Und das letzte Wort – auch in der Jahreszeit: mit dem November neigt sich das Kirchenjahr dem Ende zu. Wir feiern entsprechend den Ewigkeitssonntag, an dem an unsere Verstorbenen des vergangenen Jahres erinnert wird, bevor das neue Kirchenjahr mit dem 1. Advent beginnt.
Ein Erlebnis mit dem «Letzten Wort» berührt mich bis heute sehr tief. Ich war bei einem Ehepaar auf Besuch, um ein geplantes Familienfest zu besprechen. Vieles haben wird ausgetauscht, aufgeschrieben: wer denn alles kommen wird und wie wir das Fest rhythmisieren. Danach begleitet mich die Gastgeberin nach draussen, öffnet lächelnd die schwere Tür, ich trete hinaus. Der vertraute Ton der Türe, wie sie ins Schloss fällt, bleibt aus. Stattdessen die leise Stimme, die hinter meinem Rücken spricht: «Hoffentlich darf ich den Tag noch erleben. Ich habe Krebs. Es ist nichts mehr zu machen. Vor meinem Mann wollte ich das nicht aussprechen.» In Zeitlupe vor meinem inneren Auge sehe ich mich wieder, wie ich mich umdrehe, um mit der Frau ein neues Treffen abzumachen, um über ganz andere Dinge als über ein Fest zu sprechen – zu zweit. Meist kommen solche Worte noch leiser, zwischenzeilig, verschlüsselt mit einem fragenden Blick und oft kommen sie zuletzt.
Mich begleitet die Grundfrage: warum eigentlich wird das Wesentliche zwischen Menschen nicht während einer stundenlagen, tage- oder sogar lebenslangen Begegnung auf den Tisch gelegt, sondern erst dann, wenn es schon fast zu spät dazu ist? Das – «Me hätti doch no so viel z'rede mitenand» –
Worüber reden denn Menschen ein Leben lang miteinander, besser gefragt, worüber nicht?
Wenn es letzte Worte sind, zeigen sie Wirkung. Berühmte letzte Worte gibt es ohne Zahl. Oft kurz vor dem Tod. Doch warum schreibt man den letzten Atem eines Menschen in Worten auf, was ist das Besondere eines letzten auf dieser Erde geäusserten Gedankens?
Diese besondere Aufmerksamkeit ist mit dem Geheimnis einer grösseren Bedeutung umgeben. Kommt uns da etwa die mit schon geschlossenen Augen geflüsterte und doch sehende Botschaft aus einem anderen Leben entgegen? Oder ist es die wirkmächtige, knappe Zusammenfassung von dem, was einem Menschen in seinem Leben sprichwörtlich bis zum letzten Atemzug wichtig erschien?
Die Frage für alle letzten Worte bleibt: Was macht es aus, dass solche kurzen, tiefgehenden oder banalen Sätze den Nachkommen oder Hörer:innen derart in Erinnerung bleiben und sogar durch Zeit und Raum weitergetragen werden?
Vielleicht ist es das Unwiderrufliche dieser letzten Worte, das ihnen einen besonderen Wert verleiht. Auf diese letzten Worte kann nichts und niemand mehr folgen. Im Kleinen wie im Grossen.
Jetzt im November, besonders wenn wir uns an die Menschen erinnern, die noch nicht allzu lange her mit uns gelebt, geliebt, gelacht und gestritten haben, fallen uns diese Worte vielleicht mehr auf. Und auch an die Ungezählten sei an dieser Stelle gedacht, die wortlos in den Wirren von Kriegen und in der Gewalt menschlichen Unrechts verschwinden. Was werden sie uns für letzte Gedanken hinterlassen haben, die niemand je notierte, oder die womöglich jemand eigens vernichtete?
In der Bibel kommt eine viel weitergefasste Dimension in den Blick, als unsere oft magische Vorstellung von letzten Worten. Der Segen Gottes geht über alle letzten Worte von Menschen, wie auch vermutlich die berühmtesten letzten Worte im Matthäusevangelium: «Und siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.» (Mt 28,20b)
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten November mit segensreichen Entdeckungen im Leben, vielleicht auch in unseren Gottesdiensten oder in der einen oder anderen Veranstaltung. Besonders aber etwas Zeit für sich, für Abschiede und mit starken Gedanken für die, die da waren, die da sind und die da noch kommen werden.
Pfarrer Markus Dettwiler